Niederlage um Niederlage

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Die Siegessträhne für die sogenannte „Einheitsregierung“ (GNA) mit ihrem Sitz in der libyschen Hauptstadt Tripolis und unter der Führung des Premierministers Fayiz Sarraj reißt nicht ab: Nachdem sie die ostlibysche Tobruk-Regierung und die dazugehörige „Libysche Nationalarmee“ (LNA) unter dem Kommando von General Haftar aus Tripolis vertreiben konnten, stoßen sie in den umliegenden Regionen auf wenig Widerstand und können immer mehr Gebiete und Städte erobern und dabei beachtliche Siege vorzeigen. Die ausbleibende Verteidigung der LNA sorgt für Verwirrung, da sie sogar gute Verteidigungspositionen kampflos aufgeben und sich stattdessen immer weiter in das Zentrum des Landes zurückziehen. Dieser völlige Zusammenbruch bedroht nun auch das wichtigste Öldrehkreuz des Landes, die Hafenstadt Sirte.

In den letzten drei Wochen gelangen den Einheiten der GNA mit der massiven Unterstützung der Türkei entscheidende militärische Erfolge im Nordwesten Libyens. Der Zusammenbruch begann mit der Eroberung des al-Watiyah-Militärflughafens einige Kilometer südwestlich von Tripolis, welcher von der LNA als wichtigste Operationsbasis für Luft- und Drohnenangriffe auf die Millionenstadt genutzt wurde. Danach ging es schnell, innerhalb weniger Tagen wurden die umliegenden Gebiete gesichert und eine große Gegenoffensive auf die südlichen Viertel und den dazugehörigen Internationalen Flughafen gestartet, welche nach monatelangen Kämpfen und unter hohen Verlusten von der Nationalarmee erobert wurden. Mit dem weitreichenden Abzug sämtlicher Einheiten aus Tripolis begann dann der wahre Zusammenbruch.

In den letzten zwei Tagen konnten die Milizen der Einheitsregierung über 50 Kilometer weiter vorrücken und und ihr insgesamt gehaltenes Territorium verdoppeln, nachdem sie zuvor nur noch wenige (aber dafür bevölkerungsreiche) Küstenstädte wie Tripolis oder Misrata hielten. Zu den neuesten Erfolgen gehört die Stadt Tarhuna, welche eigentlich zu den letzten Hochburgen der Tobruk-Regierung in Nordwestlibyen gehörte und oftmals als letzte Verteidigungslinie bezeichnet wurde. Stattdessen wurde der Ort kampflos aufgegeben. Inzwischen befinden sich erste GNA-Kämpfer in der Wüstenstadt Bani Walid, welche rund 150 Kilometer südöstlich von Tripolis liegt, der einstigen Frontlinie. Bisher scheint es auch kein Ende der Offensive zu geben, an dessen Ende möglicherweise die gesamte Region Tripolitanien unter der Kontrolle der Einheitsregierung stehen würde.

Tripolitanien zählt neben Fezzan und Kyrenaika zu den drei großen Regionen Libyens und nimmt im groben den Nordwesten des Landes ein. Darunter befinden sich auch die Orte Bani Walid und Sirte. Dass es in Bani Walid zu keinen wirklichen Gefechten gekommen ist, ist wenig verwunderlich angesichts der Tatsache, dass die Stadt eigentlich neutral ist und von Gaddafi-Loyalisten kontrolliert wird. Je nach Ausgangslage im Land richtet die Ortschaft ihre Unterstützung aus, im momentanen Falle ist das die Einheitsregierung. Für die Bereitstellung ihres Flughafens erhält Bani Walid weitgehende Autonomie in allen Belangen.

Die zweite Stadt Sirte wird einigen Gerüchten zufolge bereits von ersten GNA-Milizionären bedroht. Der Küstenort wechselte erst im Januar den Besitzer, nachdem die mehrheitlich salafistisch-madkhalistischen Milizen der Stadt von der Einheitsregierung hin zur Tobruk-Regierung desertierten. Dies geschah noch in Zeiten, in denen ein möglicher Sieg von Khalifa Haftar eine reale Chance darstellte und zudem auch noch eine zweite Front entlang der Küste auf Misrata eröffnete. Es wäre also wenig verwunderlich, wenn sich die Garnison vor Ort ein zweites Mal für einen Fraktionswechsel entscheiden würde, ein Ultimatum dafür existiert bereits. Sirte gehört zu den wohl wichtigsten Orten im Land, da über die Hafenstadt der Großteil des libyschen Öls exportiert wird. Das liegt vor allem daran, dass sich die Ölfelder südlich von Sirte befinden.

Während die ostlibysche Seite den allgemeinen Abzug mit einer „Waffenruhe und den UN-Vereinbarungen entsprechend“ zu legitimieren versucht, sieht die Situation auf dem Boden anders aus. Die ausbleibenden Kämpfe bedeuteten jedoch auf keinen geordneten oder geplanten Rückzug hin, da die GNA Unmengen an Waffen, Munition und Fahrzeugen erbeuten konnte. In Tarhuna fanden sie mehrere funktionstüchtige Kampfpanzer, darunter drei von Russland ausgelieferte T-62M. Insgesamt befindet sich die Anzahl der erbeuteten Fahrzeuge auf über 60. Dort fanden sie auch mehrere, noch verpackte Panzer- und Flugabwehrwaffen, Raketen, etliche Unmengen an Artilleriegeschossen und sogar ein chinesisches Drohnengewehr des Typs „DHI-UAV-D-1000JHV2“. Auf dem Flugplatz von Fam Molga fanden sie zudem einen Mi-35-Kampfhubschrauber, welcher jedoch nur noch bedingt funktionsfähig ist.

Die kommenden Wochen und Tage werden für Westlibyen entscheidend werden. Die Libysche Nationalarmee kontrolliert mit der Jufrah-Luftwaffenbasis noch ein wichtiges militärisches Ziel in der Region, dort sollen zudem auch noch Söldner der russischen Privatarmee Wagner stationiert sein. Zudem wurden dort mehrmals russische Kampfjets gesichtet. Auch wenn die LNA in erster Linie materielle Verluste erleiden musste, ist sie noch nicht geschlagen. Das schnelle Vorrücken der Einheitsregierung birgt das Risiko, die eigenen Frontlinien zu überdehnen und gerade die Nachschubwege erheblich zu verlängern. Bei einem Gegenangriff könnte dies verhängnisvoll werden, jedoch kann die Tripolis-Regierung weiterhin auf die massive Unterstützung der Türkei und tausender syrischer Islamisten zählen. 

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Die Tobruk-Regierung unter Kahlifa Haftar kontrolliert etwa 80% des Landes, ein Großteil davon ist jedoch Wüste. Die dortige Koalition bestand zunächst aus verschiedenen Milizen, welche sich jedoch auch aufgrund internationaler Hilfe zunehmend professionalisierten und inzwischen in Form der „Libyschen Nationalarmee“ zu den stärksten Streitkräften auf dem libyschen Schlachtfeld gehören. Dennoch agieren viele Milizen unter dem Schirm der LNA weiterhin unabhängig. Haftar verschrieb sich persönlich primär der Bekämpfung von islamistischen Kräften im Land, so wurden über mehrere Jahre und Monate hinweg Städte wie Benghazi oder Dernah aus den Händen des Islamischen Staates, al-Qaidas oder lokaler Islamisten befreit. Unterstützt wird er dabei vor allem durch Russland, das Nachbarland Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Frankreich, welches zunehmend gute Beziehungen zu Haftar aufrecht erhält, nachdem er für eine Notoperation nach Frankreich transportiert wurde. Auch Griechenland, Saudi-Arabien und Jordanien unterstützen Ostlibyen. Zudem ist er amerikanischer Staatsbürger, nachdem er erfolglos gegen Ghadaffi 1989 geputscht hatte und die USA ihm eine Zuflucht anbot.

Auf der anderen Seite befindet sich die sogenannte „Einheitsregierung“, welche von der UN als legitimer Vertreter des libyschen Staates angesehen wird. Im Vergleich zur Tobruk-Regierung existiert eine niedrigere militärische und politische Einheit, immer wieder versuchen lokale Milizen aus den verschiedenen Vorstädten von Tripolis um die Herrschaft zu buhlen und attackierten auch mehrmals die örtlichen „Tripolis Protection Force“. Die verschiedenen Milizen vor Ort haben die tatsächliche Macht in der Region, die Regierung unter al-Sarraj ist vergleichsweise machtlos und auf die internationale Unterstützung angewiesen. Diese Unterstützung erhalten sie in erster Linie von der Türkei, aber auch der Iran und Katar transportierten bereits Waffen und lieferten finanzielle Hilfe. Der Konflikt zwischen der Einheits- und Tobruk-Regierung ist aber nicht nur Ausdruck geopolitischer Machenschaften, sondern zeigt die weiterhin bestehende Aufteilung des Landes in das ostlibysche Cyranaika und westlibysche Tripolitanien auf, die die angespannten Beziehungen der Regierungen und Bevölkerung stärken.

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