Winter naht

Der neunte Monat des Ukrainekrieges ist von den anbahnenden Wetterumschwüngen geprägt, die die nahende Jahreszeit mit sich bringt: Die Regenzeit erlahmt sämtliche offensive Anstrengungen der Ukraine und Russland, dennoch kommt es in mehreren Regionen zu schweren Gefechten, während ukrainische Einheiten im Norden und Süden vorrücken, wittert Russland, unterstützt durch zehntausende untrainierte und schlecht ausgerüstete Reservisten, im Donbass seine Chance. Der denkwürdigste Angriff fand aber in der Krim statt, wo das ukrainische Militär mit innovativen „Bootsdrohnen“ potentiell zwei Kriegsschiffe der russischen Schwarzmeerflotte vernichten konnte. Dennoch scheinen auf beiden Seiten die Vorbereitungen für einen brutalen und kalten Winter anzulaufen.

Auch weiterhin ist die Krim vor ukrainischen Angriffen jedweder Art unsicher. Nach Militärschlägen durch Autobomben, Drohnen und mutmaßliche Spezialeinheiten kommt nun eine weitere Waffe im ukrainischen Arsenal hinzu: „Bootsdrohnen“, besser bekannt als USVs. Diese Boote sind nicht größer als ein Paddelboot und werden über lange Reichweiten extern gesteuert. Mit großen Mengen Sprengstoff beladen sind diese unbemannten „Kamikazefahrzeuge“ das geeignete Utensil, ob bis in den Hafen der Hauptstadt Sewastopol einzudringen, wo sich zudem das Hauptquartier der russischen Schwarzmeerflotte befindet. Während die Ukraine noch kein Statement zu diesem Zwischenfall veröffentlichte, änderte Russland seine Position alle paar Stunden:

Zunächst wurden die am Morgen aufsteigenden Rauchschwaden und Explosionen damit erklärt, dass es auf dem Gelände des Marinestützpunktes Sewastopol zu Militärübungen gekommen ist. Wenige Stunden später kam es rasch zu einer Korrektur, man sprach stattdessen von einem beschädigten Minensuchboot. Kurz darauf wurden jedoch Videoaufnahmen von den eingesetzten USVs veröffentlicht, die einen direkten und erfolgreichen Angriff auf die russische Fregatte Admiral Makarow zeigte. Das Schiff wurde erst vor wenigen Jahren in den Dienst gestellt und war faktisch nach der Zerstörung des Moskwa-Schlachtkreuzers das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte. Damit wurde erneut bewiesen, dass Russland keine adäquaten Mittel besitzt, um die Krim-Halbinsel vor den ständigen und innovativen ukrainischen Angriffen zu verteidigen.

Auf dem ukrainischen Schlachtfeld ergibt sich ein ähnliches Bild. Inzwischen sind laut offiziellen Verlautbarungen 80.000 Reservisten bereits an der Front aktiv, 210.000 werden auf unterschiedlicher Weise und Qualität trainiert, resultierend aus Personalmangel, fehlenden Equipment und ausbleibenden Zahlungen für die genannten Punkte. Trotz dieser Umstände nutzt man die neuen Verstärkungen direkt für eigene kleinere Offensiven im Donbass, namentlich im Oblast Donezk. Direkt westlich der Millionenstadt Donezk konnte man nach über einen halben Jahr an schweren Gefechten einen „Durchbruch“ in Form eines Vorstoßes von zwei Kilometern verzeichnen, wodurch Russland nun teilweise das Dorf Wodjane kontrolliert. Diese Geländegewinne stehen in keinem Verhältnis zu den eingesetzten und verlorenen Ressourcen, nichtsdestotrotz wird dies als großer Erfolg gefeiert.

Parallel dazu nahmen die russischen Streitkräfte wohl weiter südlich eine weitere Offensive auf, in der gleichen Provinz nahe der Stadt Pawliwka. Pro-russischen Angaben zufolge konnte die Stadt bereits gesichert, die dazugehörigen Minenanlagen und umliegende Hügel und Verteidigungsanlagen ebenso erobert werden. Von dieser gesamten Operation mangelt es an Beweisen, weshalb nicht mal überprüfbar ist, ob diese Offensive überhaupt existiert. Das Gebiet war Anfang des Sommers von beiden Seiten schwer umkämpft, Ukraine und Russland gleichermaßen starteten Gegenoffensiven im Kampf um die strategisch günstig gelegene Region, seitdem herrschte dort lange Zeit Stillstand. Die Zeit wird zeigen, ob dort wieder Bewegungen stattfinden.

An der administrativen Grenze zwischen den Oblasten Charkiw und Luhansk rücken ukrainische Einheiten gemächlich vor. Die nächste russische Verteidigungslinie befindet sich zwischen den Städten Kreminna und Swatowe, entlang der dazugehörigen Verbindungsstraße, welche von Kiew vor kurzem erfolgreich getrennt wurde. Nur noch wenige Kilometer trennen ukrainische Kampfverbände von Swatowe, entlang der gesamten Front wird vorgerückt. Russland sprengte bereits die wenigen Brücken in der Region, um den ukrainischen Vormarsch zu verlangsamen. Trotz neuer Verstärkungen scheint das russische Militär unfähig, die Ukraine aufzuhalten bzw. innerhalb der kurzen Zeit Verteidigungsanlagen aufzubauen. Ukrainische Kräfte könnten in der Zukunft hier bis nach Starobilsk inmitten von Luhansk vorrücken, welches sich derzeit noch 60 Kilometer entfernt befindet.

In der südukrainischen Region Kherson scheinen Berichte über einen russischen Truppenabzug verfrüht zu sein. Zwar gibt es weiterhin Meldungen von Umstrukturierungen, Rotationen und z.B. dem Rückzug schwerer Artillerie über den Fluss Dnepr, jedoch graben sich russische Soldaten weiter im Umfeld der namensgebenden Provinzhauptstadt Kherson weiter ein. Die Ukraine plant nach Regierungsangaben, die Stadt bis zum Ende des Jahres wiederzuerobern. Dabei scheinen sie inzwischen von Bodenoffensiven abzukehren und sich stattdessen auf Artilleriebombardements zu konzentrieren, um so den Gegner zu zermürben, ähnlich der Donbass-Situation im Juni/Juli. Russland hat inzwischen seine zivilen Institutionen erfolgreich evakuiert, die russische Machtprojektion vor Ort lässt deswegen nach. Inzwischen ist die Bevölkerung wieder dazu übergegangen, den ukrainischen Hrywnja als faktisches Währungsmittel zu nutzen.

Für Kherson und den Rest des Landes wird der kommende Verlauf der Wintermonate werden, welche bereits mit der Rasputitsa bzw. der Regensaison begonnen hat, die jegliche Truppenmanöver fernab der asphaltierten Straßen zu einer Unmöglichkeit macht. Damit werden Militäroffensiven wesentlich erschwert, während gerade asymmetrische Kriegsführung, die sich auf die wenigen verbliebenen Nachschubrouten konzentriert, noch wichtiger wird. Die Ukraine konnte dies bereits in den ersten zwei Monaten des Krieges beweisen, wodurch die russische Achillesferse der Logistik zusätzlich belastet wird. Dieser Umstand befördert die ohnehin schlechte Versorgung russischer Soldaten mit allen Notwendigen gegen die Kälte und Nässe, während Kiew auf westliche Unterstützung in der Hinsicht rechnen kann.

Hinterlasse einen Kommentar