Zum Dnepr und darüber hinaus

Mit der Wiedereroberung der einzigen von Russland eroberten Provinzhauptstadt Kherson ist der Kampf um den Süden vorerst zugunsten der Ukraine entschieden. Während die Bewohner ihre Befreiung zelebrieren, bewegen russische und ukrainische Armeeverbände ihre nun freigewordenen Kräfte in Richtung Osten, zum neuen Hauptschauplatz des Krieges: Die von Russland eroberte Landbrücke zwischen Festland und der Krim könnte der nächste große Austragungsort schwerer Gefechte werden, stellt sie immerhin den einzigen strategischen und geografischen Sieg Russlands im Konflikt dar. Doch auch die Donbassregion könnte wieder in das Zentrum der Begierde rücken, startete Russland dort vor kurzem lokale Gegenangriffe.

Unter großem Jubel trafen die ukrainischen Soldaten in der einst 300.000 Einwohner zählenden Provinzhauptstadt Kherson auf dem zentralen Swoboda-Platz ein, wo sie unter Freudentränen von tausenden Einwohnern erwartet wurden. Nur fünf Tage später besuchte Präsident Zelensky die Stadt, welche nur wenige Kilometer von den feindlichen Positionen entfernt liegt. Entgegen den offiziellen Verlautbarungen des russischen Verteidigungsministeriums konnte aber nicht sämtliches Personal und Equipment vor dem Abzug erfolgreich über den Dnepr gebracht werden. Überall finden sich kleinere Munitionslager und beschädigte Militärfahrzeuge. Insbesondere in der Stadt Kherson werden immer wieder russische Soldaten aufgegriffen, die ihre Uniformen zugunsten von Zivilkleidung ablegten. Am Ufer des Flusses werden immer wieder Leichen russischer Soldaten angespült, die wohl nicht rechtzeitig flüchten konnten.

Seit wenigen Tagen sind damit sämtliche Gebiete nördlich des Dnepr bzw. am östlichen Ufer des Flusses unter ukrainischer Kontrolle, insgesamt über 4.500 Quadratkilometer konnte Kiew innerhalb von 24 Stunden zurückgewinnen. Darauf folgt nun erstmal der Wiederaufbau von Basisinfrastruktur, welche von Russland kurz vor ihrem Rückzug nahezu vollkommen zerstört wurde. Seit über einer Woche gibt es in Kherson weder fließendes Wasser noch Strom, auch die Telekommunikation ist zusammengebrochen. In der Nacht des Abzuges zerstörten russische Soldaten beispielsweise etliche Funktürme oder den 200 Meter hohen Fernsehturm in der Stadt selbst. Damit wurde das Prinzip der verbrannten Erde gänzlich erfüllt, nachdem russische Truppen zuvor wochenlang Supermärkte plünderten, Museen ausraubten und sogar vor Statuen in Parks und Zootieren keinen Halt machten.

Trotz der Aufbaubemühungen bildet Kherson jetzt eine Frontstadt. Vier Kilometer über den Dnepr und seine Ausläufer sind russische Einheiten in den am anderen Ufer liegenden Städten stationiert. Bereits jetzt schon soll die Ukraine mit dem Artilleriebeschuss gestartet haben, ebenso aber befindet sich Kherson in der Schussreichweite des Feindes. Es bleibt abzusehen, wie sich diese Konfrontation weiterentwickeln könnte, letzten Endes wird durch den Dnepr die Gefechtsintensität eher gering sein. Trotz der natürlichen Barriere sollen ukrainische Spezialeinheiten einigen Gerüchten zufolge sogar Landungsmanöver unternommen haben, unter anderem auf die Kinburn-Halbinsel südwestlich von Kherson, wo sie eine Präsenz errichtet haben. Bestätigt ist dies aber bei weitem nicht.

So wie damals beim Fluss Donets im Nordosten des Landes werden von nun an ukrainische Soldaten die natürliche Barriere überqueren und in regelmäßigen Abständen Aufklärungsmissionen oder Hit&Run-Manöver durchführen, um den Gegner zu schaden. Der Großteil der russischen und ukrainischen Verbände an der Kherson-Front wird aber anderorts eingesetzt werden, wo genau ist unklar. Am wahrscheinlichsten aber könnte die Saporischschja-Front in der Südukraine reaktiviert werden, nachdem sie vergleichsweise seit März ruhig war. Von dort aus könnte die Ukraine wahlweise eine Offensive in Richtung Melitopol oder Mariupol starten. In beiden Fällen wäre die russische Landverbindung zur Krim gekappt, was nach der Beschädigung der Kertsch-Brücke besonders schwerwiegend wäre. Russland hat zumindest bisher dort eine lokale Offensive in Richtung Wuledar unter hohen Verlusten gestartet, wodurch sie das Dorf Pawliwka zumindest teilweise erobern konnte. Aktuell kommt es dort zu schweren Gefechten, wo beide Seiten behaupten, den Sieg davonzutragen.

Ansonsten könnte auch das Grenzgebiet zum Oblast Luhansk wieder aktiver werden. Dort stehen ukrainische Einheiten nach den erfolgreichen Offensive in der Provinz Charkiw und Lyman nur noch wenige Kilometer vor der Linie Swatowe-Kreminna, der nächsten Verteidigungslinie Russlands in der Region. Bisher setzt Kiew aber nur relativ wenige Ressourcen ein, um die durchaus als Nebenschauplatz kategorisierte Front zu durchbrechen, was sich durch die Verstärkungen nun ändern könnte. Von dort aus könnte ein Durchbruch für die Städte Sievierodonetsk und Lyssychansk weiter südlich erfolgen. Damit wäre Russland allen nennenswerten Erfolgen beraubt, die nach März erfolgten. Dieses Szenario steht aber bisher noch weit in den Sternen.

Währenddessen versucht Russland unter der Führung der Privatarmee Wagner inzwischen fünf Monaten, den ukrainischen Verteidigungsring im Donbass auf der Höhe von Bachmut zu durchbrechen. Nachdem sie vor einem Monat aus der Stadt wieder zurückgedrängt und damit monatelange Erfolge auf russischer Seite vernichtet wurden, versuchen sie nun wieder eine nördliche Flankierung über Soledar. Berichtenswerte Erfolge blieben bisher aus. Die einzigen russischen Geländegewinne in diesem Monat ist das bereits erwähnte und dessen Zustand ungeklärte Dorf Pawliwka und die Siedlung Opytne, welche zwei Kilometer von der Millionenstadt Donezk entfernt liegt und seit acht Jahren die Frontlinie bildete. Im selben Zeitraum konnte die Ukraine ungefähr ein Prozent des eigenen Territoriums wiedererobern. Russland kontrolliert aktuell etwa 16% der Ukraine, inklusive der Krim und der gesamten Donbassregion.

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