Ägypten bereitet sich auf eine mögliche Intervention in Libyen vor

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Al-Sisi trifft sich in Kairo mit mehreren Stammesführern aus Libyen

Derzeit stehen alle Zeichen auf Eskalation: Die Truppen der Einheitsregierung bereiten sich seit Tagen auf eine Erstürmung der Stadt Sirte vor, welche aufgrund ihrer zentralen Küstenlage das wichtigste Drehkreuz des Landes für den Ölhandel darstellt. Gleichermaßen kann der Ort die Zukunft Libyens bestimmen, denn sie wurde von der ägyptischen Regierung zur „roten Linie“ erklärt: Im Falle der Eroberung oder eines Angriffes könnte das östliche Nachbarland mit eigenen Soldaten in den Krieg eingreifen. Sowohl die von der Türkei abhängige, international anerkannte „Einheitsregierung“ (GNA) aus dem Westen, als auch die ostlibysche Tobruk-Regierung bzw. deren militärischer Arm der „Libyschen Nationalarmee“ (LNA) unter General Khalifa Haftar versuchen Sirte für sich zu gewinnen, notfalls auch unter dem Risiko einer neuen ägyptischen Intervention und zunehmenden Internationalisierung des Konfliktes.

Auf Seiten der Einheitsregierung laufen alle Vorbereitungen für die bevorstehende Erstürmung von Sirte und den umliegenden Gebieten. Sollte die GNA die Stadt erobern, würde das eine militärische Intervention bedeuten, zumindest laut der vorherrschenden Rhetorik Ägyptens. Für die bevorstehende Offensive auf Sirte wurden die Frontlinien auf beiden Seiten mit neuen Einheiten verstärkt, darunter auch hunderte syrische Islamisten auf Seiten der Einheitsregierung. Die LNA wiederum setzt auf enorme Minenfelder und Luftunterstützung, da die Truppen der GNA zunächst noch einen etwa 30 Kilometer langen und leeren Wüstenstreifen überqueren müssen, um die Tore von Sirte zu erreichen.

Ein Erfolg der Nationalarmee ist vor allem von den internationalen Unterstützern abhängig, auch wenn sie sich nicht auf dem massiven Niveau wie die Türkei beteiligen können. Diese Vorhaben sind jedoch noch völlig unklar, mit der Ausnahme der klar kommunizierten „roten Linie“ Ägyptens. Die Vereinigten Arabischen Emirate werden wie üblich enorme Mengen an modernen Waffensystemen bereitstellen, demnach wurden auch verschiedene Luftabwehrsysteme rundum Sirte errichtet, um türkische Kampfjets und Drohnen von der Siedlung fernzuhalten. Russland hat mehrere Kampfjets auf dem weiter südlich gelegenen Jufrah-Militärflughafen stationiert, welche neben Sirte zu den wichtigsten Zielen für die Einheitsregierung zählt und ebenso Bestandteil der ägyptischen roten Linie ist. Bisher scheinen sie nur der Abschreckung zu dienen, weshalb auch etliche Kämpfer der russischen Privatarmee Wagner vor Ort aktiv sind. Ersten Berichten zufolge haben sie sich wiederum aus Sirte weiter nach Richtung Osten zurückgezogen.

Ägypten wiederum trommelt im Hinterland für eine bevorstehende Operation, auch auf diplomatischer Ebene. Präsident al-Sisi traf sich in der Hauptstadt Kairo mit mehreren Vertretern libyscher Stämme, die Meisten davon aus der ostlibyschen Region Cyranaika, aber auch einige Stammesführer stammten aus der Region von Tripolis, um den Anspruch auf ganz Libyen zu verdeutlichen. Dabei kündigte al-Sisi den Ausbau der Kooperation zwischen den zwei nordafrikanischen Ländern an, darunter der Aufbau und die Förderung einer „libyschen Armee“, was direkt zu neuen Gerüchten führte. Demnach versucht Ägypten, mithilfe dieser Stammesmilizen eine neue Armee aufzubauen, welche zwar immer noch auf der eigentlichen Libyschen Nationalarmee aufbaut, aber langfristig vor allem General Haftar entmachten soll, dem allgemein die Schuld für das militärische Versagen in der Tripolis-Offensive gegeben wird.

Die Tobruk-Regierung unter Khalifa Haftar kontrolliert etwa 70% des Landes, ein Großteil davon ist jedoch Wüste. Die dortige Koalition bestand zunächst aus verschiedenen Milizen, welche sich jedoch auch aufgrund internationaler Hilfe zunehmend professionalisierten und inzwischen in Form der „Libyschen Nationalarmee“ zu den stärksten Streitkräften auf dem libyschen Schlachtfeld gehören. Dennoch agieren viele Milizen unter dem Schirm der LNA weiterhin unabhängig. Haftar verschrieb sich persönlich primär der Bekämpfung von islamistischen Kräften im Land, so wurden über mehrere Jahre und Monate hinweg Städte wie Benghazi oder Dernah aus den Händen des Islamischen Staates, al-Qaidas oder lokaler Islamisten befreit. Unterstützt wird er dabei vor allem durch Russland, das Nachbarland Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Frankreich, welches zunehmend gute Beziehungen zu Haftar aufrecht erhält, nachdem er für eine Notoperation nach Frankreich transportiert wurde. Auch Griechenland, Saudi-Arabien und Jordanien unterstützen Ostlibyen. Zudem ist er amerikanischer Staatsbürger, nachdem er erfolglos gegen Ghadaffi 1989 geputscht hatte und die USA ihm eine Zuflucht anbot.

Auf der anderen Seite befindet sich die sogenannte „Einheitsregierung“, welche von der UN als legitimer Vertreter des libyschen Staates angesehen wird. Im Vergleich zur Tobruk-Regierung existiert eine niedrigere militärische und politische Einheit, immer wieder versuchen lokale Milizen aus den verschiedenen Vorstädten von Tripolis um die Herrschaft zu buhlen und attackierten auch mehrmals die örtlichen „Tripolis Protection Force“. Die verschiedenen Milizen vor Ort haben die tatsächliche Macht in der Region, die Regierung unter al-Sarraj ist vergleichsweise machtlos und auf die internationale Unterstützung angewiesen. Diese Unterstützung erhalten sie in erster Linie von der Türkei, aber auch der Iran und Katar transportierten bereits Waffen und lieferten finanzielle Hilfe. Der Konflikt zwischen der Einheits- und Tobruk-Regierung ist aber nicht nur Ausdruck geopolitischer Machenschaften, sondern zeigt die weiterhin bestehende Aufteilung des Landes in das ostlibysche Cyranaika und westlibysche Tripolitanien auf, die die angespannten Beziehungen der Regierungen und Bevölkerung stärken.

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