Belarus und der östliche Nachbar

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Seit einer Woche kommt es im osteuropäischen Belarus zu erheblichen Protesten gegen die Regierung, welche in Form des ehemaligen und derzeitigen Präsidenten Alexander Lukaschenka eigenen Angaben zufolge mit 80% wiedergewählt wurde, während die einzig zugelassene Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja lediglich 10% der Stimmen erhielt. Die daraufhin ausgebrochenen Demonstrationen beweisen vor allem Eines: Das Gegenteil. Während die Opposition im Schatten von staatlichen Repressalien an Momentum gewinnt und sich immer mehr Bevölkerungsteile der Bewegung anschließen, ist die Rolle Russlands in der aktuellen Entwicklung unklar. Der östliche Nachbar könnte ebenfalls von den Protesten profitieren, welche in ihrer Natur weder pro-westlich, noch anti-russisch sind.

Alles begann in der Wahlnacht des 9. Augusts, als die Wahlkommission von Belarus stolz den erneuten Sieg von Lukaschenka verkündete, welcher damit seine sechste Amtszeit antreten konnte. Was zunächst nur vereinzelte Proteste in der Hauptstadt darstellte, wuchs über die Tage zu der Massenbewegung auf, die alle Regionen des Landes erfasste. Dabei offenbarte sich auch früh der extreme Wahlbetrug, der sich in jener Augustnacht ereignete. Sowohl in den verschiedenen Botschaften europäischer Länder, als auch in einigen Wahlbezirken innerhalb Belarus‘ wurden die tatsächlichen Wahlergebnisse veröffentlicht, welche eindeutig waren: Zwischen 70% bis 90% der Stimmen konnte Zichanouskaja auf sich vereinen. Berichten zufolge wird nun versucht, diese Beweise endgültig zu vernichten. Diese Mehrheit drückt sich auch durch die Massen auf, die derzeit für die Demokratie auf die Straße gehen.

Die Demonstrationen bisher waren vor allem von Frieden und Solidarität geprägt. In der Nacht zum 11. August kam es in Minsk vereinzelt zum Einsatz von Molotow-Cocktails gegen Sicherheitskräfte, jedoch handelt es sich dabei um einen isolierten Vorfall. In den ersten Tagen reagierte die Polizei mit der brutalen Niederschlagung der Proteste, verhaftete über 7.000 Demonstranten, beschädigte vorbeifahrende Autos die sich mit den Demonstranten solidarisierten, verschleppte sie aus ihren Wohnungen oder schlug auf isolierte Protestierende ein. Am 9. August überfuhr ein Truck der Bereitschaftspolizei mehrere Demonstranten. Wenig später wurden Hunderte Insassen freigelassen, die das wahre Ausmaß der Repressalien offenbarte: Viele von ihnen wurden während der Haft zusammengeschlagen, verprügelt und gefoltert, die Wunden über den ganzen Körper sind weiterhin klar ersichtlich. Aufgrund der schieren Masse an Verhafteten dienten Hinterhöfe und Sportplätze als provisorische Gefängnisse der Polizei.

Damit einher geht die Taktik der Abschreckung. Beispielsweise veröffentlichte eine Polizeistation ein Video von mehreren Jugendlichen, die gefesselt und sichtlich geschockt die Frage eingeschüchtert verneinten, ob sie in Zukunft „Revolution spielen“ wollen. Das Ausmaß der Polizeigewalt kann man nur schätzen, aber derartige Aktionen und der rücksichtslose Einsatz von Waffen und scharfer Munition hinterlassen einen wenig optimistischen Eindruck davon. Dementsprechend wenig ist es auch verwunderlich, dass immer wieder Videos auftauchen, die Staatsbeamte wie Polizisten, Mitglieder des Inlandsgeheimdienstes oder der Armee zeigen, die demonstrativ ihre Uniformen wegwerfen und damit Solidarität bekunden.

Bisher starben auch zwei Personen durch die Polizei, der Erste davon wurde als Alexander Taraikowski identifiziert. Auf mehreren Videos ist zu sehen, wie er sich friedlich mit gehobenen Händen der Polizeiblockade annäherte, bis er erschossen wurde. Seine Beerdigung fand am Samstag unter der Beteiligung Zehntausender im Zentrum der Hauptstadt statt. Nachdem die Demonstrationen aber weiter anwuchsen, verhielten sich Sicherheitskräfte auffällig ruhig und suchten fortan keine Konfrontationen mehr. Stattdessen zeigten viele Polizisten, Sicherheitskräfte und Soldaten Sympathien für die Protestbewegung, beispielsweise schloss sich die Polizei in der litauischen Grenzstadt Lida der örtlichen Kundgebung an. In anderen Orten wie Babrujsk weigerte man sich, die Demonstration aufzulösen. In Minsk wiederum schlossen sich Einheiten der Fallschirmjäger den Protesten an.

Aus welchen Bevölkerungsteilen besteht die Protestbewegung?

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Tausende Arbeiter streiken für den Abgang von Lukaschenka

Die Opposition ist vielfältig, sowohl örtlich als auch demographisch und ideologisch. Während die Kundgebungen in der Millionenstadt Minsk begannen und sich von dort aus in den verschiedenen größeren Städten wie Brest oder Lida ausbreiteten, gibt es inzwischen sogar kleinere Demos in Orten mit 43 Einwohnern wie Vishneuka oder 10.000 Einwohnern wie Smalyavichy nordöstlich von Minsk. Derzeit versucht die Protestbewegung, das monopolistische Staatsfernsehen auf ihre Seite zu bekommen. So soll es beispielsweise bei den Mitarbeitern des Rundfunksenders Belteleradiokampanija einen Streik geben, welcher erst durch das Hinzuziehen der OMON-Nationalgarde beendet werden konnte. In allen Bevölkerungsschichten ist also Widerstand gegen die Lukaschenka-Regierung zu finden, sogar in derart „regierungstreuen“ Institutionen.

Einen besonderen Teil der Bewegung machen Fabrikarbeiter aus, insbesondere in den großen Staatsbetrieben wie beim Automobilhersteller BelAZ oder dem Pharmaunternehmen Belmedpreparaty kommt es seit Tagen zu einem Generalstreik. Zusammen mit anderen Sektoren wie der Infrastruktur (z.B. des Flughafens und der U-Bahn in Minsk) oder der Öl- und Chemiekonzern Belneftekhim stellen sie einen großen Verlust für die Regierung dar und offenbaren zudem den Wahlbetrug: Als man die Belegschaft nach ihrem Wahlverhalten fragte, wählten alle einstimmig die Oppositionskandidatin Zichanouskaja. Einzige Ausnahme: Die Konzernbosse wählten Lukaschenka, gaben aber zugleich zu, dass er weniger Stimmen erhielt. Ein anderer Faktor sind Frauen, welche bereits mit Zichanouskaja prominent vertreten sind. Inspiriert von den Farben der Weißrussischen Volksrepublik von 1918 tragen sie oftmals weiße und rote Kleider und treten an vorderster Front auf, insbesondere durch das Verteilen von Blumen als symbolische Friedensgeste an Polizisten oder andere Sicherheitskräfte.

Welche Rolle könnte Russland zukünftig spielen?

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Fotos einiger verhältnismäßig weniger zugerichteter Personen, die von der Polizei festgenommen wurden

Viele der zukünftigen Entwicklungen sind vor allem von einem Nachbarn abhängig: Russland. Im Gegensatz zu den Geschehnissen in der Ukraine ist die heterogene Opposition in ihrer Art nicht anti-russisch oder gegen den russischen Einfluss im Land gerichtet. Dementsprechend wenig Klagen waren bisher aus dem Kreml zu hören, auch wenn russische Medien nach Angriffen auf ihre Journalisten die Regierung unter Lukaschenka kritisierten. Für Putin sind die Proteste zugleich Risiko, als auch eine Chance. Einerseits gewinnen Bürgerrechts- und Zivilbewegungen an der direkten Landesgrenze an Auftrieb, welches ähnliche Bündnisse in Russland befeuern würde, gerade in jenen Zeiten, in denen Putin bereits an Beliebtheit eingebüßt hat. Zudem wird der bisherige Staatenbund zwischen den beiden Ländern, die Weißrussisch-Russische Union, durch die nationalistischen Demonstrationen gefährdet, ein wichtiges Element für die Einflussnahme auf Belarus.

Andererseits offenbaren die Demonstrationen in allen Bevölkerungsschichten und Institutionen die Unbeliebtheit und Isolation der gegenwärtigen Regierung, wodurch ein zukünftiges Festhalten an Lukaschenka zum Risiko werden würde. Nicht nur würde man dadurch erheblich an Beliebtheit einbüßen, sondern zugleich einen Präsidenten loswerden, welcher oftmals seinen eigenen unabhängigen Kurs fährt und dabei versucht, den Westen und Osten gegenseitig auszuspielen. Außerdem besitzen einige Teile der Opposition exzellente Beziehungen zu Russland, vor allem jene Elemente, die eine Privatisierung der Schlüsselindustrien befürworten. Mit Valeri Tsepkalo und Viktar Babarika gab es sogar zwei Präsidentschaftskandidaten mit wirtschaftlichen Hintergrund, denen aber die Teilnahme an den Wahlen letztendlich verwehrt wurde. Tsepkalo floh kurz daraufhin nach Moskau.

Um genau diese Unklarheit zu beseitigen, versucht Lukaschenka eine gewisse Abhängigkeit zwischen ihm und Russland zu erzeugen, indem er die Demonstranten als „Farbrevolutionäre“ brandmarkt und sie als von der Ukraine, Polen, Litauen, Tschechien und Großbritannien unterwandert sieht. Es gibt also nur die Wahl zwischen ihm und einer zweiten Ukraine an der russischen Grenze. Möglicherweise stellt Lukaschenka dafür auch gewisse Eingeständnisse bereit, z.B. der Verlust an belorussischer Souveränität durch die Aussicht des Unionsstaates, der von Lukaschenka seit Jahren versprochen, aber stets blockiert wird. In diesem Falle würden die derzeitigen Proteste in jenes umgemünzt werden, gegen das sie versuchen zu kämpfen: Das Ende eines souveränen Belarus und der Verlust demokratischer Aussichten, diesmal unter der „fremden“ Schirmherrschaft Russlands.

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