Russische Vergeltungsschläge verfehlen Wirkung

Es sollte der große Coup für Russland werden, ein Vergeltungsschlag mit enormer abschreckender Wirkung und der Anbeginn einer neuen Phase des Krieges: Als Reaktion auf die weitgehende Zerstörung der Krimbrücke ordnete der russische Präsident Wladimir Putin dutzende Raketenangriffe auf die gesamte Ukraine an, als zerstörerisches Mahnmal, nicht nochmal russische Infrastruktur zu attackieren. Wenige Tage später wissen wir: Diese Aktion, welche in erster Linie ihre Ziele verfehlte oder innerhalb von 24 Stunden reparierte Energieinfrastruktur beschädigte, ist der Ausdruck eines zahnlosen Tigers. Auch weiterhin rücken ukrainische Einheiten in ihrem Land vor und erobern Gebiete zurück, während Kiew ungestört Ziele auf dem russischen Festland und der Krim zerstört. Russland hat alledem nichts entgegenzusetzen.

Es war wohl keine Überraschung, als russische Raketen und Drohnen in der Nacht nach dem Angriff auf die Krimbrücke in der gesamten Ukraine gesichtet wurden und die Großstädte aus allen Himmelsrichtungen bombardierten. Schwer betroffen waren gerade jene Orte, die bisher vom Ukrainekrieg weitgehend verschont blieben oder sich erfolgreich wehren konnten, darunter Orte wie Kiew, Odessa, Dnipro, Vinnytsia, Lwiw und viele mehr. In den meisten Städten waren die Schäden marginal, auch dank dem erfolgreichen Einsatz der ukrainischen Luftabwehr. Laut eigenen Angaben konnten über die Hälfte der eingesetzten ballistischen Raketen, Cruise Missiles, Antischiffsraketen usw. am Horizont eliminiert werden, bevor sie aufschlugen.

In Kiew wurde bei dem Angriff eine Parkanlage mit dazugehörigen Spielplatz getroffen, eine verglaste Fußgängerbrücke, eine Kreuzung vor der Universität, ein Hochhauskomplex und der ukrainische Unternehmenssitz von Samsung. Anhand dieser Ziele lässt sich illustrieren, dass die Absicht dahinter entgegen offizieller Verlautbarungen nicht die Zerstörung militärischer Infrastruktur und Entscheidungszentren ist, sondern durch die willkürliche Auswahl Terror verbreitet werden sollte. Die schwersten Schäden fanden wohl in der Westukraine statt, wo durch Angriffe auf Elektrizitätskraftwerke ganze Regionen ohne Strom und fließendes Wasser waren, zumindest für einen kurzen Zeitraum. Nach einem Tag konnte man weitgehend zum Status Quo zurückkehren, die russische Angriffswelle verursachte also marginalen Schaden insgesamt.

Fast eine Woche später ist klar, dass ein solcher Angriff für lange Zeit ein isolierter Fall bleiben wird, da es Russland einfach an den nötigen Kapazitäten fehlt, größere Raketenwellen innerhalb kürzerer Zeit durchzuführen und dann auch noch relevantere Ziele zu attackieren. Kein einziges Mal kam es zu russischen Militärschlägen auf mobile Objekte, beispielsweise die bekannten Waffentransportzüge von Polen bis in die Zentralukraine. Stattdessen befinden sich stets statische Ziele im Visier des russischen Militärs, mangels der nötigen Technologie und Geheimdienstinformationen, um z.B. Konvois präventiv zerstören zu können. Putin kündigte bereits an, solche Angriffswellen erstmal nicht weiterzuführen, ohne dabei aber den Grund zu nennen. Damit verkommt der Vergeltungsschlag zu einer reinen symbolischen Verzweiflungstat, die am Kriegsverlauf nichts ändern wird.

Die Frontverläufe haben sich im Verlauf der letzten Woche nicht nennenswert verändert. Ukrainische Einheiten rücken in den letzten Gebieten des Oblast Charkiw in Richtung Swatowe vor, wo Russland sich derzeit eingräbt und ihre neueste Verteidigungslinie errichtet hat, welche oftmals aber nicht vielmehr als ein oder mehrere Gräben mitsamt Panzersperren darstellt, keine Defensive in der Tiefe existiert und damit jegliche Verteidigungsmaßnahmen von Misserfolg gekrönt sein werden. Aktuell befinden sich ukrainische Verbände etwa zehn Kilometer von Swatowe entfernt, dort können sie relativ ungehindert entlang der Verbindungsstraße zwischen der Stadt und Kupjansk vorrücken. Bisher ist nicht absehbar, ob Kiew dieser Region eine größere Priorität einräumt oder sich stattdessen auf andere, akutere Gebiete konzentrieren möchte, z.B. die Südukraine.

Dort konsolidieren beide Seiten ihre Kräfte entlang des gesamten Frontabschnittes. In Saporischschja gibt es immer wieder Gerüchte über eine wahlweise bevorstehende ukrainische oder russische Offensive, die sich beiderseits noch nicht bewahrheitet haben. Ukrainische Kampfverbände sollen sich dort aber seit längerem zusammenziehen, eine erfolgreiche Operation würde das russisch besetzte Gebiet im Süden zweiteilen, ein entsprechendes Interesse besteht also. Im Oblast Kherson hingegen führt die Ukraine ihr Offensivunternehmen nach einer mehrwöchigen Konsolidierungsphase fort, zumindest berichten pro-russische Akteure seit Samstag über den wiederaufgenommenen Artillerie- und Raketenbeschuss auf eigene Positionen in der Region. Es bleibt zu sehen, wie schnell und inwiefern sich eine ukrainische Offensive im Norden des Dnepr manifestieren wird.

Währenddessen ist Russland selber nur imstande, eine lokale Offensive im Bereich der Donbass-Stadt Bachmut durchzuführen, welche seit fast drei Monaten relativ erfolglos verläuft und unter dem Kommando der Privatarmee Wagner stattfindet. In den letzten Wochen konnten sie einige kleine Siedlungen südlich von Bachmut erobern, zuletzt versuchten sie sich auch in der Erstürmung der ersten östlichen Viertel des Ortes. Dort konnten sie aber erfolgreich zurückgeschlagen werden, aktuell befinden sich die Wagner-Söldner etwa drei Kilometer von den Stadttoren entfernt. Die versuchten Vorstöße finden immer lautere Kritik, immerhin finden sie seit Monaten ohne große Fortschritte und dafür mit erheblichen Verlusten statt, während Russland woanders in der Defensive ist. Nun soll Moskau befohlen haben, nahezu sämtliche Offensivoperationen zu beenden.

Damit einhergehend sind die vermehrten Meldungen, dass bereits Hunderte der neu einberufenen Reservisten auf den Schlachtfeldern des Donbass und Kherson getötet oder gefangen genommen wurden. Diese Soldaten hatten im Idealfall damit ein maximal einmonatiges Training, entgegen der regulären Ausbildungszeit von sechs bis zwölf Monaten. Berichte von Reservisten zeigen hingegen, dass selbst dieser Anspruch wohl nicht erfüllt wird: Unter menschenunwürdigen Umständen müssen Tausende Soldaten in Zelten oder offenen Feldern übernachten, ihre eigene Versorgung sicherstellen und die Grundausrüstung finanzieren. Eine Ausbildung bleibt ebenfalls entsprechend aus, da es am nötigen Trainingspersonal mangelt. Wenig überraschend sind also die Meldungen von völlig demoralisierten Reservisten, die bei dem ersten Feindkontakt desertieren.

Nichtsdestotrotz verkündete Wladimir Putin, dass in den nächsten zwei Wochen die vermeintliche Teilmobilmachung ein jähes Ende finden wird, welche äußerst unpopulär war. Angeblich wurden insgesamt 220.000 Russen mobilisiert, was die angepeilten Ziele von 300.000 Reservisten verfehlen würde. Eine ähnlich große Anzahl flüchtete in die Nachbarsländer, um nicht eingezogen zu werden. In den Großstädten Moskau und St. Petersburg rollt derzeit deswegen die zweite Mobilisierungswelle an, wo alle Personen im wehrpflichtfähigen Alter auf der Straße aufgegabelt und Einberufungen erhalten. In St. Petersburg wurden sogar Wohnkomplexe von den örtlichen Polizeibehörden nahezu belagert, wodurch alle Anwohner der entsprechenden Zielgruppe keine Möglichkeit besaßen, ihrer Einberufung aus den Weg zu gehen.

Derweil keimen wieder die Gerüchte eines aktiven Kriegseintrittes von Belarus auf, nachdem es unklare Angaben einer gemeinsamen Kampfgruppe mit Russland, dem Beginn einer Teilmobilmachung und gemeinsamen Übungen an der belarussisch-ukrainischen Grenze von staatlicher Seite gibt. Regierung und Militär berichten von der Gründung einer russisch-belarussischen Einheit, die insgesamt bis zu 70.000 Soldaten umfassen soll, welche an gemeinsamen Übungsmanövern im Westen von Belarus teilnehmen sollen. In Wirklichkeit aber findet dieses Unterfangen am Grenzgebiet zur Tschernobyl-Sperrzone statt, also im Südosten des Landes und damit unweit der ukrainischen Grenze.

Unklar hingegen sind alle anderen Informationen zu diesem Vorgang. Laut Präsident Lukaschenko und der Staatsapparat könnte es eine mögliche Beteiligung an der „Spezialoperation“ Russlands geben bzw. eine eigene „Anti-Terrormission“ gestartet werden, nachdem die benachbarten NATO-Staaten Litauen und Polen angeblich destabilisierende Angriffe auf Belarus planen würden. Dies wird jedoch von belarussischen Geheimdienst und dem Militär vehement widersprochen, demnach handelt es sich vielmehr um die alljährigen Trainingsmanöver, die Bevölkerung müsste sich also keine Sorgen machen.

Für zusätzliche Verwirrung sorgen die Berichte einer größeren Mobilisierungswelle in Belarus, welche aber nur im Geheimen stattfindet. Bisher wurden nur in den ländlichen Regionen Reservisten einberufen, die Großstädte blieben ähnlich dem russischen Modell bisher weitgehend verschont. Dafür gibt es vereinzelte Berichte darüber, dass in einigen Orten bis zu 70% der Männer rekrutiert wurden. Solche ungleichmäßig verteilten Mobilisierungskampagnen gab es bereits in Russland zu beobachten, dahinter stecken lokale Beamte, dessen Hauptinteresse die schnellstmögliche und effiziente Erfüllung der Quoten ist, ohne dabei Rücksicht auf die tatsächliche Fähigkeit der Einberufung zu nehmen. Aktuell erreichen bereits die ersten russischen Truppen die südöstliche Region des Landes.

Eine tatsächliche Kriegsteilnahme von Belarus wäre ein äußerst überraschender Schritt, immerhin konnte sich das Land bisher erfolgreich aus dem Ukrainekonflikt heraushalten, fernab der Stationierung russischer Soldaten im Frühling und als Sprungbrett für die Kiew-Offensive. Es gibt viele Faktoren, die gegen den Kriegseintritts von Belarus sprechen würden. Einerseits der Zustand der regulären Streitkräfte, welche zu den wohl am schlechtesten ausgerüsteten und trainiertesten Armeen in Europa gehört. Mit einem Budget von 660 Millionen Euro und einer Soldatenzahl von bis zu 60.000 wäre sie im aktuellen Konflikt nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, fast das gesamte Kriegsgerät von Belarus ist mindestens 40 Jahre alt, die Armee selber war nie aktiv und selbst Trainingsmanöver gingen nicht über ein Battalionslevel, also wenige hundert Soldaten, hinaus. Ein Teil des belarussischen Equipments wurde über die letzten Monate nach Russland verkauft oder transportiert, was die bestehenden Defizite nur verstärkt.

Zudem existiert eine hohe Unzufriedenheit mit der Regierung, wie die brutal niedergeschlagenen Proteste von vor zwei Jahren belegten. Der Ukrainekrieg ist nochmal besonders unpopulär, was sich ebenso negativ auf die innenpolitische Stellung von Belarus auswirken würde. Sabotageakte von Bahnarbeitern in Belarus behinderten die Versorgung russischer Truppen in den ersten Monaten, das Militär selber stemmte sich gegen eine Intervention bzw. Teilnahme an der „Spezialoperation“. Hinzu kommt, dass derzeit der wohl denkbar schlechteste Zeitpunkt für ein Kriegseintritt auf russischer Seite ist, gemessen am Kräfteverhältnis und den vorzeigbaren Erfolge der letzten Monate. Ein erneuter Vorstoß von Belarus auf Kiew würde wohl noch desaströser enden als der letzte Versuch, insbesondere wenn diese Operation unter dem Kommando von Belarus stattfinden würde. Aber eine in jeglicher Hinsicht auswegloser Schritt ist kein Grund dafür, dass er nicht stattfinden würde. Das lehrte bereits der Ukrainekrieg in seiner Gesamtheit.

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