Herrschaftswechsel für Afrin

Die kurdische Enklave Afrin im äußersten Nordwesten Syriens war lange Zeit ein Hort des Friedens und der Stabilität inmitten eines Krieges, welcher Jahr zu Jahr andauerte und niemals zu enden schien. Unter der Schirmherrschaft der kurdischen Selbstverteidigungskräfte (YPG) und mit der Unterstützung Russlands und der syrischen Regierung konnten sie ein weitgehend unbescholtenes Leben führen, trotz der Präsenz rivalisierender islamistischer Kräfte in der Umgebung der Region. Dies änderte sich, als im Jahre 2018 die Türkei unter der Zusammenstellung eines pro-türkischen und bisweilen islamistischen Milizenbündnisses die Kurden aus der Region gewaltsam vertreiben und eine Marionettenregierung einsetzen konnte. Nun gibt es zum wiederholten Male einen Herrschaftswechsel – diesmal übernimmt die in Verbindung zu al-Qaida stehende Gruppierung Tahrir al-Sham das Kommando, welche bereits über die letzte oppositionelle Provinz Idlib herrscht. Stillschweigende Unterstützung erhalten sie dabei durch die Türkei.

Lange Zeit dominierte der Status Quo im Syrienkrieg, zwischen den verschiedenen Seiten bestand ein wackeliger Friede, welcher sich in den letzten zwei Jahre manifestierte. Dies ändert sich überraschend in Form eines fraktionsinternen Konfliktes, namentlich zwischen den Gruppen Tahrir al-Sham (HTS) und der Allianz der Syrischen Nationalarmee (SNA), den letzten größeren Machtblöcken innerhalb der Opposition. Die SNA dabei ist ein loses Bündnis verschiedener Milizionäre, dessen größter gemeinsamer Nenner die Ablehnung der syrischen Regierung, die Liebe für Geld und die Unterstützung für die Türkei ist.

Dieses Spektrum reicht von moderateren und von der türkischen Regierung selber aufgebauten Gruppe wie der „Hamza-Division“ bis zu „Sultan Murad“, einer islamistisch-turkmenischen Miliz, die in der Vergangenheit das amerikanische Militär in Nordsyrien attackierte. Diese übernahmen die Sicherheitsaufgaben in Afrin und den oppositionellen Gebieten Nordsyriens, dessen primäres Interesse aber die Profitmaximierung in Form von Raubbau oder Entführungen war, um Lösegelder zu erstehen. Auch intern gab es gelegentliche Querelen um Einflusszonen und Macht, welche aber nur lokal waren und für kurze Zeit andauerten. All dies geschah unter der Aufsicht der Türkei, welche mehrere Militärbasen in der Region auf erhält und einen Teil der Infrastruktur bereitstellt, darunter Moscheen oder in religiöse Schulen umgebaute Bildungsinstitutionen.

Dem gegenüber steht die wesentlich homogenere Organisation Tahrir al-Sham. In der Vergangenheit war sie vor allem unter den Namen Fateh al-Sham und Jabhat al-Nusra bekannt und konnte bereits in den frühen Jahren des syrischen Krieges zu einer dominanten Gruppe avancieren, die insbesondere in den ersten Jahren der offizielle al-Qaida-Ableger in Syrien war. 2016 kam es jedoch zur offiziellen Loslösung von der Terrororganisation – mit ihrer Unterstützung. Ideologisch und personell änderte sich nichts, auch heute noch haben die alten Kader wie der heutige Anführer Abu al-Julani, welcher ein enger Verbündeter des al-Qaida im Irak und damit Abu Bakr al-Baghdadis war, oder Abu Khalid al-Suri, ein Kommandant und persönlicher Freund von Osama bin Laden, fest die Zügel in der Hand. Ihre Hegemonie war bereits in Idlib klar spürbar, nun griff sie auch nach der Macht in Afrin.

Der Anlass dafür ist am 7. Oktober zu finden, als unbekannte Täter den Oppositionsaktivisten Abu Ghanoum und seine schwangere Frau bei einem Attentat in der Stadt al-Bab töteten, welche etwa 60 Kilometer von Afrin entfernt liegt. Lokale Polizeistreitkräfte bzw. Teile der SNA beschuldigten zwei Tage später daraufhin die Gruppe Furaat al-Hamzah, den Anschlag geplant zu haben. Diese Anschuldigungen schaukelte sich sukzessive zu einem bewaffneten Kampf rivalisierender Organisation herauf, wo sich am Ende die Sultan-Suleyman-Division, Jabhat al-Shamiyah, Ahrar al-Sham und die Hamza-Division gegenseitig bekämpften, allesamt offizieller Teil der Nationalarmee.

Diese Gunst der Stunde wurde von Tahrir al-Sham genutzt, welche kurzerhand auf Seiten von Furaat al-Hamza intervenierten und innerhalb von 48 Stunden etwa 80% der Region Afrin erobern konnten, all das nahezu kampflos. Einzig südlich der namensgebenden Stadt soll es zu Panzergefechten gekommen sein, Verluste sind aber nicht bekannt. Mit türkischer Unterstützung wurde kurz darauf eine Waffenruhe vereinbart, welche aber weder die Gefechte stoppte, noch die Offensive von HTS. Aktuell befinden sie sich nur wenige Kilometer von der Stadt Azaz entfernt, welche 20 Kilometer von Afrin entfernt liegt und vor allem aufgrund ihres Grenzüberganges zur Türkei von strategischer Bedeutung ist. In den Nachbardörfern kommt es Kämpfen zwischen Kämpfern der dschihadistischen Tahrir al-Sham und den Überbleibseln des Dritten Korps der SNA.

HTS kann dabei auf die Unterstützung einiger lokaler SNA-Fraktionen wie Ahrar al-Sham (welche vor fünf Jahren noch die konkurrierende Organisation in Idlib war) oder Furaat al-Hamzah setzen, aber auch die Bevölkerung könnte ihre Präsenz willkommen heißen. Denn zusammen mit der Eroberung inszenieren sie sich als Garant für Stabilität und Frieden, ihre Kämpfer räumen Straßen auf und ihr Anführer al-Julani verteilt Essen an ärmere Haushalte. All das sind Faktoren, die in Zuge der von Korruption geprägten und inneren Streitereien geprägten Herrschaft der SNA wie eine attraktive Alternative erscheinen. Die damit verbundene radikalislamistische Ideologie erscheint nur sekundär, auch weil gerade in Nordsyrien jene Personen geflohen sind, die von Tahrir al-Sham in Idlib verfolgt wurden, aus politischer oder religiöser Natur.

Die Türkei scheint sich mit den neuen Umständen arrangiert zu haben, zusammen mit HTS-Kämpfern patrouillieren sie die Straßen von Afrin. Ohnehin wäre die Einnahme von Afrin zumindest nicht ohne das Stillschweigen der türkischen Regierung möglich gewesen, immerhin besitzen sie dort eine bedeutende Militärpräsenz und könnten jederzeit Einfluss auf die HTS in Idlib ausüben, z.B. durch die Blockade des einzigen Grenzüberganges zwischen Türkei und der Provinz. Stattdessen kooperieren beide seit Jahren eng miteinander, Ankara kann als Schutzmacht für die gebeutelte Opposition in Syrien auftreten und Idlib mithilfe von eigenen Militärbasen zu einem faktischen Protektorat machen, während Tahrir al-Sham unbehelligt ihre Ziele zu Errichtung eines islamischen Musterkalifats vorantreiben kann und dabei wirtschaftliche Unterstützung und Waffenlieferungen durch den nördlichen Nachbarn erhält. Afrin fällt nur als weitere Region in diese Kategorie.

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